Anselm Kiefer | Herbst | 2015/16
Anselm Kiefer, Herbst, 2015/16, Öl, Acryl, Emulsion, Schellack, Holz und Blei auf Leinwand, 330 × 570 cm
Provenienz: Privatsammlung, Deutschland
Anselm Kiefer – Die Jahreszeiten als Allegorie des Seins
Mit dem monumentalen Werk Herbst (Autumn) aus den Jahren 2015/16 schuf Anselm Kiefer (geb. 1945 in Donaueschingen, lebt und arbeitet in Croissy-Beaubourg bei Paris) eine eindrucksvolle malerische Verdichtung seines künstlerischen Weltbildes. Das Werk misst 330 × 570 cm und besteht aus Öl, Acryl, Emulsion, Schellack, Holz und Blei auf Leinwand – Materialien, die Kiefer seit Jahrzehnten in seiner Arbeit als Träger von Geschichte, Erinnerung und Wandlung begreift. Herbst entstammt einer Folge von vier monumentalen Jahreszeitenbildern, zu denen auch Frühjahr, Sommer und Winter gehören. Diese Werkreihe, die in ihrer Materialität und Symbolik eine umfassende Allegorie auf den Kreislauf des Lebens bildet, befindet sich heute in bedeutenden internationalen Privatsammlungen: Frühjahr in einer Sammlung in den USA, Sommer in Frankreich, Herbst in einer deutschen Privatsammlung und Winter in einer Sammlung in der Schweiz.
In Herbst verdichtet Kiefer das Motiv des Vergehens zu einem Bild von fast geologischer Schwere. Die Oberfläche, durchzogen von dichten Schichten aus Farbe, Blei und organischem Material, trägt die Spuren eines Prozesses, der zwischen Malerei und Skulptur oszilliert. Blei – jenes für Kiefer so charakteristische Material, Symbol der Beschwernis und des Wissens zugleich – findet sich hier als aufgeschlagene Buchform im oberen Bildfeld: ein alchemistisches Zeichen für Transformation, Erinnerung und Erkenntnis. Das Buch scheint über der erdigen Landschaft zu schweben, als Metapher für das geistige Gedächtnis der Natur, für das Speichern und Vergehen von Wissen.
Die Landschaft selbst ist von karger Schönheit. In erdigen Tönen, mit grau-braunen und ockerfarbenen Schichtungen, evoziert Kiefer eine verwundete, aber lebendige Erde. Astwerk und Wasserflächen strukturieren den Raum, als stünden wir an der Schwelle zwischen Werden und Vergehen. Der Blick in die Tiefe, der die Spiegelung eines Teichs oder einer Wasserfläche erahnen lässt, erinnert an romantische Landschaftsmalerei, doch Kiefers Landschaften sind nie idyllisch – sie sind Chiffren geschichtlicher Erfahrung, Gleichnisse für den Kreislauf von Zerstörung und Wiedergeburt.
Im Kontext der vier Jahreszeitenbilder entfaltet sich Herbst als der Moment des Übergangs. Frühjahr zeigt in helleren, aufstrebenden Kompositionen die Energie des Neubeginns, während Sommer in seinen goldgelben und bleireichen Flächen die Reife und das Übermaß der Natur feiert. Winter dagegen führt den Zyklus zu seiner stillen Essenz zurück – zur Erstarrung, zur Reflexion und zum Schweigen der Materie. Herbst steht zwischen diesen Polen: ein Bild des Abklingens, aber auch der Vorbereitung auf Neues, ein visuelles Gleichnis für Transformation und Kreislauf.
Wie in vielen seiner Werke greift Kiefer auch hier auf mythologische, literarische und naturphilosophische Bezüge zurück. Die Jahreszeiten sind für ihn keine bloße Naturbeobachtung, sondern ein poetisch-metaphysischer Rahmen, in dem sich Leben und Geschichte überlagern. Das Zusammenspiel von organischem Material und schwerer Materie spiegelt diesen Gedanken: Die Natur vergeht, aber sie speichert Erinnerung – so wie Kiefers Bilder selbst Träger einer verdichteten Zeit sind.
In Herbst wird dieser Gedanke besonders sichtbar. Die Komposition balanciert zwischen Melancholie und Energie. Der Betrachter blickt auf eine Landschaft, die sich selbst erinnert – auf Erde, die schreibt und schweigt zugleich. Die Schichtung von Farbe und Blei ist nicht nur eine malerische Geste, sondern eine archäologische Handlung: Jede Schicht ist Sediment, jede Spur ein Abdruck der Zeit.
Diese Werkgruppe gehört zu den späten Zyklen Kiefers, in denen der Künstler die Natur zum zentralen Träger seiner Geschichtsphilosophie macht. Wie schon in früheren Serien – etwa den Mohnfeldern, den Sonnenblumen oder den Himmelserden – arbeitet er auch hier mit der Dialektik von Vergänglichkeit und Dauer, von Materie und Geist.
Herbst (Autumn) steht damit als sinnbildliche Komposition für Kiefers übergreifende Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und Erneuerung allen Seins. Die Jahreszeitenbilder markieren zugleich eine Rückkehr zu einem kontemplativen Blick auf die Natur, der bei Kiefer stets auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte ist – mit der Natur als Archiv, als Gedächtnis und als Gleichnis des Lebens selbst.