62 63 "De divina proportione", in dem Piero della Francescas Traktat so stark überarbeitet wurde, dass es von Vasari des Plagiats bezichtigt wurde. Der Titel des Manuskripts (gedruckt 1509) "Die göttliche Proportion" bezieht sich auf die Proportion, die sich ergibt, wenn eine Linie an einem Punkt in zwei ungleiche Abschnitte geteilt wird, so dass das Verhältnis zwischen dem kleinen und dem großen Abschnitt gleich dem Verhältnis zwischen dem großen Abschnitt und der ursprünglichen ganzen Linie ist. Dieses Verhältnis ist dasselbe wie das von Euklid im Buch VI der "Elemente" beschriebene, und es ist dassel- be wie das, das zuerst von den Pythagoräern und dann von Plato angesprochen wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wird dieses Verhältnis als Goldener Schnitt oder Golde- ner Schnitt bezeichnet und durch die irrationale Zahl "PHI" oder 1,6180339887..... dargestellt. Dank dieses Ver- hältnisses ist es möglich, das Fünfeck, das Pentagramm und damit zwei der komplexesten platonischen Körper wie den Ikosaeder und den Dodekaeder zu bilden. Letz- teres gewann besondere Bedeutung in den neuplatoni- schen Spekulationen, an denen auch Pacioli beteiligt war und die an die Vision der Materie und des Universums anknüpften, die in Platons Timaios" und Phaidos" zum Ausdruck kommt. Der abschließende Teil von "De divina proportione" besteht aus sechzig illustrierten Tafeln, die direkt von ebenso vielen (schlecht erhaltenen und daher für Pacioli verlorenen) Zeichnungen von Leonardo da Vinci abgeleitet sind. Letztere erarbeiteten dreidimensio- nale und perspektivische Darstellungen von Polyedern, sowohl in der "festen" als auch in der "leeren" Version, und präsentierten sie an einem dünnen Band aufgehängt und mit einer Karte versehen, auf der der Name in römischen Großbuchstaben stand. Diese fruchtbare Zusammen- arbeit war möglich, weil Pacioli selbst das "Zeichnen" als grundlegend betrachtete, um diese mathematischen und zugleich philosophischen Einheiten zu erfassen und sie seinen Zeitgenossen verständlich zu machen. In Kapitel III desselben Werkes stellt der Autor nämlich fest: "...das Auge ist die erste Tür, durch die der Intellekt denkt und schmeckt...". Dieser Satz veranschaulicht das Bedürfnis einiger Gelehrter und Künstler jener Zeit, den wissen- schaftlichen Wert der Perspektive, der neuen Art, die phy- sikalische Welt zu verstehen, zu bekräftigen und sie den klassischen vier freien Künsten (Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik oder Harmonie) ge- genüberzustellen und sie von ihrer rein technischen Rol- le zu befreien. Könnte man also das Universum in einer geometrischen Form darstellen, so wäre es ein Dodeka- eder: Die Natur, der Ausdruck der Schöpfung, erschafft und transformiert Materie, die der Mensch wiederum interpretieren und in neue Formen bringen kann. Nach Platon, an den sich Paciolis Studien anlehnten, gaben fünf geometrische Körper den vier Elementen des Kos- mos Gestalt: das Hexaeder für die Erde, das Ikosaeder für das Wasser, das Oktaeder für die Luft und das Tetraeder für das Feuer. Und das Dodekaeder? Nach Platon war es die erhabene Synthese der Quintessenz: "Es bleibt noch eine Form der Zusammensetzung, nämlich die fünfte, die Gott für die Gestaltung des Universums nutzte" (Platon, Timaios). Die drei Welten, die Pflanzen-, die Tier- und die Mineralwelt, sind die Bausteine, aber auch der Schlüssel zu dem Versuch, die Gesetze des Universums zu verste- hen. Dass die Natur die Kraft findet, zu wachsen und auf- zusteigen, ist auch das Thema eines Ihrer jüngsten und aufwändigsten Werke … BEFORE BLOSSOMING ist ein Werk, das in drei zeitli- chen Phasen ab 2017 realisiert wird. Es war ein schmerz- hafter Prozess, der jedoch 2021 zu großer Zufriedenheit abgeschlossen werden konnte. Ich habe beschlossen, sie meinem lieben Freund aus Kindertagen, Pierfilippo, zu widmen. Seine Rückkehr in den Kreis meiner wertvollen Freunde hat mir geholfen, das Werk zum Blühen zu brin- gen, so dass die Widmung an ihn passend war. Die Soli- darität und Zuneigung der intimsten und aufrichtigsten Freundschaften hat eine starke Wirkung auf die mensch- liche Seele. Die Selbstlosigkeit, die diese seltenen Freund- schaften zutiefst verbindet, hilft einem, sich selbst frei zu fühlen. Bei ihm und einigen anderen muss ich mich nicht dafür schämen, wer ich bin: Ich kann ich selbst sein und dadurch aufblühen. Die Arbeit wird also nicht nur in einer zeitlichen, sondern auch in einer formalen Abfolge reali- siert. Da ist zunächst der schwarze Samen/das schwarze Ei, das an die ursprüngliche dunkle Materie des Univer- sums erinnert. Darin kann man, wie in einem Studienab- schnitt über die morphologischen Teile einer Pflanze, den embryonalen oder keimfähigen Teil in Vorbereitung auf die Blüte untersuchen: ein vollständiges Geschlechtsteil mit Schattierungen von Grau bis Silber. Die letzte Phase war die längste und schwierigste: eine leuchtend weiße Blüte, die so groß ist wie das Samenkorn, aber durch ein Zusammenspiel von Festkörpern und Hohlräumen ent- steht. Jede seiner Schichten wurde zunächst ohne Kleb- stoff hergestellt und dann auseinandergenommen, um dann erneut hergestellt und mit Klebstoff befestigt zu werden. Dieses ständige An- und Ausziehen ließ mich erkennen, wie sehr die harmonische Vollkommenheit der Natur nicht nur unnachahmlich ist, sondern auch Geset- zen unterliegt, die mir noch unbekannt sind und die in ei- ner langen Entwicklung den Höhepunkt ihrer Schönheit erreicht haben. Es machte mir auch klar, wie grundlegend die Leere in der vollständigen Vision der Schönheit ist. Ich folgte meiner Intuition; meine Seele musste mit dem Gefühl des Aufblühens Hand in Hand gehen. Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass es in einem Kunst- werk streng verboten ist zu lügen und dass man nicht me- chanisch vorgehen kann. Das Kunstwerk muss das un- mittelbare und wahre Ergebnis dessen sein, was wir tief in unserem Inneren empfinden: Deshalb ist es notwendig, zu graben, ohne sich zu verlieren, und die Harmonie mit völliger Hingabe an das Opfer zu suchen. Wenn ich von Opfer spreche, meine ich nichts Schmerzhaftes, ganz im Gegenteil: Der Akt, von dem ich spreche, ist der, bei dem man wirklich das ist, was man sagt, dass man sein will, so dass es kein Leiden gibt, wenn man zur reinsten Essenz des Selbst gelangt. Das oberste Ziel ist es, das eigene We- sen als heilig und einzigartig zu begreifen. → 78